Viele wenden sich ab. Andere erst gar nicht zu. Desinteresse herrscht häufig, wenn es um die Kunst heute geht. Was ist noch das Besondere, das Beachtenswerte, das, weswegen es sich lohnt, sie als Kunst zu bezeichnen?

Sie wird geduldet, na gut. Jahrzehntelang um Toleranz gegenüber dem Eigenartigen gebeten, wer ließe sich da lumpen? Aber geliebt, wie das früher einmal war, oder verehrt, wird sie nicht mehr. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Und wenn, dann nur aus bildungsbürgerlicher Tradition.

Dabei braucht sie weder Verehrung noch Toleranz. Ihre eigene Entwicklung hat sie dorthin gelenkt, wo sie ist. Was blieb ihr anderes übrig? Die althergebrachten, romantischen Vorstellungen zu Illusion und Mimesis, Originalität, Genialität und Ästhetik waren nicht mehr zu halten und wurden von einfachen, beinahe kindlichen Fragen bedrängt.

 

Wahrgenommen mit den Sinnen,

So eine Frage war zum Beispiel: Worin überhaupt liegt die Kunst? Im materiellen Werk, in der dahinter liegenden Idee, im Prozess des Werdens? Oder überhaupt in allem was Künstlerinnen und Künstler machen? Und wieso genießt das originale Kunstwerk einen höheren Stellenwert als seine Kopie, wenn die mit freiem Auge nicht mehr von ihrer Vorlage unterschieden werden kann und Kunst doch angeblich mit den Sinnen wahrgenommen wird?


An Antworten auf diese und ähnliche Fragen wird seit hundert Jahren gedoktort – und seither muss Kunst auch nicht mehr unbedingt schön sein oder handwerkliches Können beweisen. Nur, was zeichnet sie sonst noch aus, die Kunst?

 

Eine der kindlich präzisen Fragen war auch: Wie kann einem Werk absolute Qualität zugesprochen werden, wo Werturteile doch von Menschen kommen?

 

…hat sie ewigen Wert,

Noch in den 1950ern sprach der Kunsttheoretiker Clement Greenberg davon, dass „die Objektivität der Kunst in ihrer Geschichte begründet liegt“. Qualität beweist sich demzufolge über die Summe der Anerkennungen von Generationen. Nun ist die Kunstgeschichte aber wie jede Geschichte eine Geschichte der Sieger. Die meist ungeprüft fortgesetzt und von Generation zu Generation weitergetragen wird. Das Charakteristikum jeder Tradition ist, dass sie Werte einfriert. Sie möchte sich keine Gedanken mehr über das machen, warum, was von den Alten überliefert wurde. Lieber baut sie darauf auf. Objekte, die als Schätze eingefroren sind, bleiben Schätze. Vielleicht auch, weil sie mit den Produkten, die weniger beachtet wurden und schließlich untergegangen sind, gar nicht mehr in Konkurrenz treten können. Wo in den Sockeln der Erinnerung nur die Namen der Sieger zu finden sind, bleiben die restlichen Teilnehmenden am längst abgelaufenen Wettkampf vergessen. Ist die konstante Wertschätzung des Überlieferten also der Beleg für „objektive Kunst“?

 

Was bewahrt wird, war offensichtlich wert, aufgehoben zu werden und wird allein deshalb schon geschätzt. Nur, wie beim schottischen Whiskey, der erst nach langer Lagerung im Holzfass zum Whiskey wird, kommen auch Kunstwerke nicht als fertige Kunst ins Museum, sondern erfahren durch die Lagerung einen Reifeprozess, der sie erst nach und nach zur Kunst werden lässt.
Im Unterschied zum Whiskey allerdings sind es nicht immer die selben Ausgangsmaterialien, die zum Reifeprozess führen. Marcel Duchamp hat gemeint, dass im Louvre genauso gut auch andere Bilder hängen könnten. Bei der Kunst stellt sich daher die Frage, nach welchen Auswahlkriterien manche Exponate aufbewahrt wurden und andere nicht.

 

…und Qualität, die erkannt wird,

Offenbar muss, damit etwas überhaupt bewahrt wird, Qualität schon von vorneherein da sein. Die historische Anerkennung als Bedingung von Kunst unterliegt damit einem Zirkelschluss: Wir sagen, etwas ist Kunst, weil es über die Jahrhunderte geschätzt und bewahrt wurde, aber wir sagen gleichzeitig auch, etwas wird bewahrt, weil es Kunst ist.

Jedenfalls erhält es durch das Einbringen in die Archive eine Kunstweihe, die überhaupt erst ermöglicht, dass es später historisch anerkannte, objektive Kunst werden kann. Das Einbringen ist für die Verleihung des Kunstprädikats also die halbe Miete: einmal im Archiv, immer im Archiv. Das österreichische Museumsgesetz jedenfalls kennt kein Ausscheiden von Exponaten, so sie einmal archiviert wurden.

 

Wenn es aber stimmt, dass die Aufnahme der entscheidende Prozess jeder Kunstwerdung ist, müsste durch diese Aufnahme jeder beliebige Gegenstand zur Kunst mutieren können. Genau das war die Vermutung von Marcel Duchamp, als er Anfang des 20. Jahrhunderts geschickt seine Ready-mades, vorgefundene Gebrauchsgegenstände, ins Museum eingliedern konnte. Und tatsächlich zählen diese Werke heute zu den Ikonen der Kunstgeschichte. Haben sie aber objektive Qualität? Was überhaupt ist „Qualität“ in der Kunst? Gibt es neben der guten auch eine schlechte Kunst?

 

oder menschliche Bedürfnisse,

Hinter den Qualitätskriterien stecken natürlich Bedürfnisse. Wer beim Auto einen niedrigen Benzinverbrauch, geringen Platzbedarf und Sicherheit bevorzugt, hat andere Bedürfnisse als jemand, der auf Schnelligkeit, Größe und Aussehen achtet. Ähnliches gilt für die Kunst. Auch in der Kunst verbergen sich hinter den verschiedenen Vorstellungen von Qualität Bedürfnisse, die strukturell mit Weltanschauungen, Daseinsentwürfen und kulturellen Selbstverständlichkeiten verbunden sind.

 

Versteht eine Gruppe unter guter Kunst beispielsweise die optimale Übertragung von Gefühlen (Leo N. Tolstoi), wird die Qualität dort am größten sein, wo diese Funktion am besten erfüllt ist. So eine Vorstellung mag anderen vielleicht als Kitsch gelten. Ihrer Meinung nach müsste gute Kunst dann vielleicht aufklärende oder sozialpolitische Funktionen übernehmen.
Oder: Eine Gruppe, die gemeinsam das Neue lockt, die ausprobiert und experimentiert, hat unausgesprochen eine andere Vorstellung von dem, was Qualität in der Kunst sein soll, als eine konservierende Gesellschaft, die sich grundsätzlich den Ansichten ihrer Vorfahren anschließt, weil sie dem Tradierten als gemeinsam Verbindendem vertraut und der Kontinuität einen hohen Stellenwert einräumt.

 

…die ihr zugrunde liegen,

Auch historisch betrachtet waren in der Kunst die unterschiedlichsten Faktoren wichtig. Werte unterliegen nun einmal einem ständigen Wandel und die Vorstellungen von Qualität verändern sich parallel dazu. Von einer konstanten Qualität über die Generationen zu sprechen, ist deshalb gewagt.

Heute ist Kunst das, was irgendeine Gruppe von Menschen will, dass sie sein soll. Unterschiedliche Vorstellungen von und Meinungen über Kunst können durchaus nebeneinander kursieren oder zueinander in vielfältigen Beziehungen stehen. Will eine Gruppe den akademischen Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts, kann sie mit einer anderen ins Gehege kommen, die umgekehrt die Prozesse statt der Werke als Kunst anerkennt. Will eine Gruppe Kunst bloß zur Zerstreuung, als Auffettung der Freizeit, so kommt sie wahrscheinlich ins Gehege mit einer, die ihr Ehrfurcht, Andacht und Kontemplation entgegen bringt.

 

…und sich ändern

Und so wie die traditionellen, materiellen Kunstgegenstände nicht per se schon Kunst sind, sondern ihren Status erst durch spezielle Weihen und das Einbringen in die Archive erhalten, können auch Handlungen zur Kunst werden, wenn das von den Aktiven selbst eingefordert und von einer entsprechenden Gruppe bestätigt wird. Die gesamte Kunstdebatte ist ein Spiel, das mit dem Antrag beginnt, eine Aktivität oder ein Objekt möge mit dem Wort „Kunst“ bezeichnet werden. Und dann müssen die Mitspieler entscheiden, ob sie dem zustimmen.

 

Doch bleibt alles beim Alten. Die Geschichte wird als eine Geschichte der materiellen Werke und der Genies, die so eine Kunst herstellen, fortgeschrieben. Anders wäre kein Kapital und kein Staat mit ihr zu machen. In den Schulen werden kunsthistorische Bildungskategorien abgeprüft, als hätte es keine Ideengeschichte gegeben, die genau diese Kategorien in Frage stellt, die Ausstellungshäuser präsentieren weiterhin Stars und Ikonen, Ersatzheilige, die anstelle der Religionen über den Geniekult die Gläubigen noch einmal beten lassen. Kaum eine will etwas wissen von den utilitaristischen Forderungen der russischen Konstruktivistin Elena Semenowa die 1926 Kunst als umfassende Möglichkeit verstanden hat, ins Leben einzugreifen. Oder von Allen Kaprow, dem Happening-Künstler, der 1963 schreibt, „Um den Fallen der Kunst auszuweichen, genügt es nicht, gegen Museen zu sein oder aufzuhören, handelbare Objekte zu machen; der Künstler muss lernen, wie er den alten Vorstellungen seines Berufes entgeht.“ Zwar  werden die Situationisten mit ihrer Warnung vor der Spektakelgesellschaft und ihrem Misstrauen gegenüber dem Künstlerindividuum als Provokateure in den Kunsthäusern präsentiert und Joseph Beuys mit seiner Überlegung, jeder Mensch wäre potentiell Künstler, weil es immer Möglichkeiten gibt, unser Zusammenleben zu gestalten. Aber sie bleiben allesamt nur der erwähnenswerte Spaß am Rand.

 

oder nicht.

Aber: Eine Gesellschaft, die sich für eine demokratische Diskussion entscheidet, wird sich bemühen, all jene, die sich für Kunst interessieren, aufzuklären. Nicht nur über das, was von den Institutionen im Laufe der Jahrzehnte anerkannt worden ist, sondern vor allem über die Gründe, warum diese Institutionen das eine schon, das andere nicht als Kunst haben wollten. So eine Gesellschaft unterscheidet sich von jenen Theoretikern und Praktikern, die auf dem Standpunkt verharren, Kunst wäre etwas Bestimmtes und hätte typische Wesensmerkmale. Letztere verhindern die Aufklärung über die Wahlmöglichkeiten – und das hat mit Politik zu tun. Mit Gesellschaftspolitik. Nur wer sich darüber im Klaren ist, dass er mit gestalten kann, gestaltet auch mit. Wer demgegenüber auf normativen Werten beharrt, lässt das autoritäre Weltbild über die Kunst zurückfließen in eine Gesellschaft, die im Begriffe ist, sich mühsam von eben diesem zu befreien.