Wieso genießt das originale Kunstwerk einen höheren Stellenwert als seine Kopie, wenn diese mit freiem Auge nicht mehr von ihrer Vorlage unterschieden werden kann und Kunst doch angeblich mit den Sinnen wahrgenommen wird?

Worin liegt die Kunst? Im materiellen Werk, in der dahinterliegenden Idee, im Prozess des Werdens? Solche und ähnliche Fragen lassen uns erkennen: Kunst ist niemals etwas generell Gültiges, dem wir uns mehr oder weniger nähern können, sondern ein Gütesiegel, das von Menschen vergeben wird. Im Gegensatz zu Raum und Zeit ist Kunst nicht a priori vorhanden. Sie kann weder mit dem Musenkuss übertragen noch entdeckt werden. Als Kunst bezeichnen wir vielmehr das, was von einer Gruppe von Menschen als solche anerkannt wird – aus welchen Gründen auch immer. Kunst ist ein soziales Konstrukt; ein Prädikat, das vergeben wird.

Weder ein Klavierkonzert noch eine rituelle Totenmaske, weder ein Flügelaltar noch ein experimenteller Roman sind aus sich heraus Kunst.

Die Bedeutung des Kunstbegriffs folgt auch keinem Algorithmus, sondern ergibt sich aus seiner Verwendung. Für das Verständnis des Begriffs sind dessen kulturelle Einbettung und sein soziales Umfeld  maßgebend. Diese Rahmenbedingungen ändern sich mit den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gruppe, die ihn gebraucht.

Das gilt bei weitem nicht nur für Geschmacksurteile, sondern vor allem für die grundsätzliche Kategorisierung dessen, was zur Kunst zählt und was nicht. Wir unterscheiden uns in unserem Kunstverständnis, so wie wir uns in unseren Daseinsentwürfen, in unserem Glauben an das Leben nach dem Tod oder in unseren Vorstellungen von idealer Partnerschaft unterscheiden.

 

Der Kunstbegriff hat extreme Wandlungen hinter sich ,seine Grenzen haben sich fortwährend verschoben und  zu allen Zeiten gab es programmatische Auseinandersetzungen im Ringen um seine Definition.  So wurde etwa die Fotografie noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts von kaum jemandem als Medium der Kunst anerkannt, während sie heute als eine der wichtigsten Kunstsparten gilt.

Noch deutlicher wird die Änderung beim Vergleich mit weiter zurückliegenden Epochen. In der Frührenaissance war Kunst nicht, was sie für die aktuelle Kunstgeschichte heute ist – von der sie im Nachhinein beurteilt wird. Kunst war bis ins 17. Jahrhundert eine lebensnahe Wissenschaft. Wissenschaft und Kunst waren geradezu eins. Aber so, wie wir europäische „Kunst“-Konzepte, Vorstellungen und Werte auf die Erzeugnisse afrikanischer oder asiatischer Kulturen aufpfropfen, projizieren wir unseren heutigen Kunstbegriff auch ungeniert in die Vergangenheit.

. SIn der Antike gab es die „Sieben freien Künste“ (septem artes liberales). Zu ihnen zählten beispielsweise Astronomie, Arithmetik und Geometrie.  Handwerkliches Geschick indes, wie es für Malerei oder Bildhauerei vonnöten ist, war bis ins 18. Jahrhundert kein Kriterium für „freie Kunst“, während es danach zu einem ihrer zentralen Anliegen wurde. Malerei und Bildhauerei waren wie Jagd, Medizin, Architektur oder Landwirtschaft keine freien, sondern handwerkliche Künste (artes mechanicae). Für sie waren Fähigkeiten vonnöten, nach genauer Überlegung, mit großem Geschick und mit Wissen, entstanden aus Erfahrung, etwas zu bewirken. Diese Anforderungen kennen wir heute aus der Politik und aus vielen anderen Lebensbereichen.

Weder die artes mechanicae noch die artes liberales waren allerdings mystisch oder selbstreferentiell konnotiert, wie das in der Kunst später öfter der Fall war.

Im 17. Jahrhundert wurde die Einheit von Wissenschaft und Kunst der artes liberales aufgelöst. Die Teilung hält bis heute an. Ihr zufolge braucht der Mensch einerseits rationale Begründungen und daher exakte Wissenschaften und andererseits als Ergänzung die sinnliche Kunst, in die sich so unterschiedliche Kategorien wie Malerei, Schauspiel, Architektur oder Tanz integrieren.